Die Waldgärten im Süden Äthiopiens sind einzigartig, sie versprechen ein Leben im Einklang mit der Natur. Doch viele junge Familien sind in Not und Hunger abgerutscht. Das junge Paar Wude und Sisay wollen sich jetzt eine bessere Zukunft erkämpfen. Mit Fleiss, Liebe – und einer helfenden Hand unserer Spenderinnen und Spender.
Wie schön dieses Bergland ist! Baumriesen stehen Spalier an der Schotterstrasse, die sich den Hang hinaufwindet. An vielen Bäumen wachsen Mangos oder Avocados. Darunter recken sich die Riesenstauden der Ensete, auch Zierbanane genannt, so hoch wie Einfamilienhäuser. Ihre mannsgrossen Blätter leuchten hellgrün im Morgenlicht. Der Strauch darunter braucht ihren Schatten: Die Kirschen des berühmten Waldkaffees gedeihen nur mit Sonnenschutz. Am Boden ziehen die fleissigen Bauern Kohl, Mangold, Bohnen, Taro, Kartoffeln, Karotten: So könnte das Paradies aussehen.
Seit Jahrhunderten bewirtschaftet das Volk der Gedeo in Südäthiopien den Wald auf diese Art: Er wird in Etagen genutzt. Zum Holz und Obst der Bäume kommen die Blätter der Ensete. Aus der stärkereichen Staude produzieren die Menschen ihr Grundnahrungsmittel «Kotcho», eine Art Brot. Der Kaffee wird verkauft und bringt gutes Geld. Das Gemüse sorgt für eine vielseitige Ernährung. Ausserdem wachsen am Boden Futterpflanzen für Ziegen, Schafe und Rinder.
Umso mehr überrascht die Not der jungen Familie im Dorf Halemo: Wude Sisay und ihr Mann Sisay Beraso sind Mitte zwanzig, sie haben zwei Kinder, die vierjährige Nehmiya und der zweijährige Yohanis. So löchrig wie ihre Kleidung ist ihre Hütte, die aus Holzprügeln gebaut ist. Zum Verputzen mit Lehm fehlt das Geld, durch die Ritzen weht der Strassenstaub hinein. Das Dach besteht aus einer Plastikplane. Es riecht nach Urin. Hinter der Hütte steht ein Kalb in einem Verschlag und dort ist auch die Gemeinschaftslatrine, die sich die junge Familie mit der Verwandtschaft teilt. Ihre Hütte steht nur ein paar Schritte entfernt von einem besser gebauten Lehmhaus. Dort wohnt Sisays Vater mit seiner zweiten Frau und deren Kindern.
In der Hütte der jungen Familie ist auch heute wieder kein Brot mehr übrig. Aber die Liebe geht nicht aus. Vor sechs Jahren haben sie geheiratet – sehr jung, wie es Tradition ist. Und wie es Sitte ist in Raphe, übernahm Wude den Vornamen ihres Mannes als Nachnamen, auch in offiziellen Dokumenten heisst sie jetzt Wude Sisay.
Kennengelernt haben sie sich, wie viele Paare im gläubigen Äthiopien, nach dem Gottesdienst in der protestantischen Kirchengemeinde. Sie kochte Kaffee für die Kirchenbesucher in einem Tontopf über einer Glut aus Holzkohle. «Ich habe mich auf der Stelle verliebt», sagt Sisay. Warum Wude auf sein Werben einging? «Er ist ein guter Mensch», sagt sie. «Und haben Sie ihn angeschaut? Er ist sehr athletisch!»
Sisay ist ein harter Arbeiter, er verdingt sich als Taglöhner in der Landwirtschaft. Er bekommt umgerechnet 63 Rappen am Tag – viel zu wenig. Es fehlt am Elementaren für eine junge Familie in Raphe: an einem Flecken Wald, wo sich Kaffee und Gemüse anbauen lassen. Sisay und Wude besitzen keine Anbaufläche – so wie viele junge Familien.
Das liegt daran, dass die Bevölkerung so schnell gewachsen ist: Raphe ist mit 162 Quadratkilometern so gross wie der Kanton Appenzell Innerrhoden, hat aber sechsmal so viele Einwohner – rund 98'000. Mit jeder Generation erbt jede Familie ein immer kleineres Stück Land – und viele gar nichts mehr. Der Vater von Sisay konnte ihm keines geben. Er braucht es selbst für sich, seine Frau und weitere Kinder: Sisay hat acht Geschwister.
«Es gab schon schlimme Tage, an denen wir gar nichts assen», sagt Wude. «Auch die Kinder nicht.» Sisays Vater ist kein Ausweg: «Wir wollen nicht um Hilfe bitten, jedenfalls nicht ständig. Wir schämen uns. Und Sisays Vater hat ja selbst Kinder zu versorgen.
Wer kein Land hat, braucht Kapital, um ein Kleingewerbe zu beginnen. Aber bislang gab es für Paare wie Wude und Sisay keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen. Es gibt keine Banken in Raphe. Wer bislang investieren wollte, war auf private Geldverleiher angewiesen. Doch deren Zinsen betragen oft hundert Prozent oder mehr im Jahr.
Wude arbeitete oft als Taglöhnerin in der Produktion von Kotcho, dem Grundnahrungsmittel in Raphe, hergestellt aus den stärkehaltigen und geschabten Pseudostämmen der Ensete-Stauden aus den Waldgärten. Bezahlt wurde sie mit einem kleinen Teil des Schabgutes.
Wenn Sisay als Taglöhner in der Landwirtschaft keine Arbeit fand, kaufte er bisher grosse Laibe in der nahen Kleinstadt und verkaufte das Brot stückweise im Dorf – mit geliehenem Geld. Ein grosser Teil des Erlöses ging immer als Zins an den Kreditgeber.
Zum Glück gibt es jetzt Hoffnung. Menschen für Menschen hat in Raphe ein neues umfassendes Projekt gestartet – als erstes und einziges Hilfswerk in dem Bezirk. Wude ist in die neue Spargenossenschaft eingetreten, die Menschen für Menschen gleich nach dem Start des Projekts initiiert hat. Mit einem Mikrokredit von umgerechnet 45 Franken erhält sie jetzt Handlungsspielraum für ihr Kleinstgewerbe: Sie kauft und verkauft Lebensmittel auf den lokalen Märkten. Aktuell hat sie unreife Avocados erworben: «Schon nach einer Woche Reifezeit kann ich die Früchte auf dem lokalen Markt mit 20 Prozent Aufschlag wieder verkaufen.» Geld, das nicht mehr in die Wucherzinsen geht, sondern den Kindern zugutekommt und in weitere Investitionen fliesst: Das Paar plant, Mutterschafe zu kaufen und deren Jungtiere vor Weihnachten und Ostern feilzubieten, wenn die Preise gut sind. Wude wird den Handel mit Lebensmitteln vergrössern: «In zwei Jahren werden wir ein besseres Haus haben und unsere Kinder werden wir gut versorgen können – mit Essen, Kleidung, Schulbedarf.»
Wude hat sich ein Verhütungsstäbchen, das drei Jahre lang vor Schwangerschaft schützt, unter die Haut des Oberarms einsetzen lassen: «Wir müssen uns jetzt ganz darauf konzentrieren können, uns aus der Not herauszuarbeiten», sagt sie. «Ein drittes Kind können wir uns da nicht leisten.»
«Mittelfristig werden wir ein kleines Stück Wald erwerben», sagt Sisay. Dann wird die Familie Kaffee und Gemüse ernten. «Nicht als Taglöhner zu einem zu viel zu kleinen Lohn», sagt Wude, «sondern auf eigene Rechnung».
Warum wir helfen
Die Familien in Raphe leiden Not und Hunger. Eine Basisstudie von Menschen für Menschen mit 377 Familien untersuchte die Lebensumstände im Bezirk. Neun von zehn Familien gaben an, nicht das ganze Jahr über genug zu essen zu haben. Mehr als zwei Drittel der Familien sind demnach in der Woche vor der Befragung mindestens einmal ohne Abendessen zu Bett gegangen. Die Gesundheit und Entwicklung gerade der Kinder ist gefährdet.
Wie wir unser Ziel erreichen
In den kommenden drei Jahren stossen wir umfassende, miteinander verzahnte Massnahmen an: Vor allem geht es um die Ernährung und das Einkommen der Menschen. Wir stellen Ziege und Schafe zur Verfügung, bringen leistungsfähigere Getreide- und Gemüsesorten. Unsere Agronomen zeigen den Familien, wie sie ihre kleinen Höfe optimieren können, etwa für den Marktanbau. Wir vernetzen die Bauern in Spargruppen und Genossenschaften, damit sie gemeinsam stärker sind. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Frauen: Weil sie gesellschaftlich benachteiligt sind, liegen Entwicklungspotentiale brach.
Die hohe Geburtenrate verstärkt die Armutsspirale – und viele Frauen können nicht selbst über die Zahl ihrer Kinder bestimmen. In jeder Gemeinde bilden wir deshalb zwölf ehrenamtliche Beraterinnen und Berater aus, die ihr Wissen über Familienplanung weitergeben. Wir stellen den Gesundheitsstationen Verhütungsmittel zur Verfügung. Damit Paare bewusst entscheiden können, wie viele Kinder sie bekommen - nicht mehr, als sie ernähren können. Weil Familien durch verschmutztes Trinkwasser krank werden, erschliessen wir neue Quellen, reparieren und bauen Brunnen.
Was wir erreichen wollen
Die Kinder von Raphe haben ein Recht auf Gesundheit und Entwicklung. In den kommenden Jahren sorgen wir mit Inputs und Schulungen dafür, dass sich 3600 besonders arme Tagelöhner- und Kleinbauern-Familien aus Mangel und Not herausarbeiten und ein menschenwürdiges Leben in ihren Heimatdörfern führen können.