Ein Mädchen schreibt sich stark
Beim Schreiben können Kinder ihre Erlebnisse sortieren – und ihre seelischen Verletzungen lindern. In den Slums von Debre Berhan bringt das tägliche Journal der zwölfjährigen Tebka Erleichterung und Mut.
Eine nackte Glühbirne kämpft gegen die Dunkelheit in dem fensterlosen Raum. Die Wände aus Wellblech, ein Bett, ein Schemel, ein wackliger Tisch, eine junge Katze, die nach Fliegen jagt: Das ist das Zuhause von Tebka Endlbu, ihrer Schwester und ihrer Mutter. Sie hockt am Tisch und schreibt Tagebuch. «Ich schreibe, wie schwierig unser Leben war. Ich schreibe, wie sehr ich meinen Vater vermisse», erzählt die Zwölfjährige. «Papa ist auf dem Schlachtfeld verschollen.»
Der Vater kämpfte im Bürgerkrieg auf Seiten der Regierungsmilizen gegen die Rebellen aus Tigray. Mit ihm, der als Zimmermann genug Geld für ein Auskommen verdiente, verschwand die Sicherheit und das regelmässige Essen: Die Not krallte sich fest im Haus ohne Hüter.
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«Ich ging hungrig zur Schule. Ich war so schwach, dass ich mich auf einen Bordstein setzen musste. Mein Magen knurrte laut. Ich dachte: Was, wenn die anderen das Knurren hören? Werden sie mich auslachen?»
Tebka, ihre 17-jährige Schwester und ihre Mutter gehören zu den ärmsten Familien in der 150´000-Einwohner-Stadt Debre Berhan. Meist sind es alleinerziehende Mütter, die mit unfassbarer Ausdauer versuchen, ihre Kinder grosszuziehen. Es gibt kein Geld für Schulbedarf, weshalb Kinder oft die Schule abbrechen. Viele Mütter werden mutlos, sie schuften als Tagelöhnerinnen ohne Perspektive darauf, ihrer Misere zu entkommen.
Ihre Verzweiflung soll nicht auf die Kinder übergehen. Menschen für Menschen fördert 1800 Kinder ganzheitlich. Eine tragende Säule: Selbsthilfegruppen für Mütter. Sie erhalten Mikrokredite. Damit gründen sie Imbissstände, handeln mit Gemüse, züchten Hühner, starten Läden. Auch Tebkas Mutter gelang der Schritt: Sie kaufte eine Waschmaschine und betreibt nun eine kleine Wäscherei. Tebkas Magen knurrt nicht mehr. Aber sie denkt oft zurück. Und sie vermisst ihren Vater.
«An Feiertagen ist es besonders schlimm. Am Neujahrsfest mussten wir den Nachbarn bitten, das Huhn zu schlachten. Das macht immer der Vater. Aber ich habe keinen Papa mehr. Das hat mich so traurig gemacht. Und wütend. Warum musste er in den Krieg ziehen?»
Die Hausbesuche der Sozialarbeiterinnen sind für Kinder wie Tebka entscheidend. Die Fachfrauen von Menschen für Menschen hören zu. Bei akuter Erkrankung sorgen sie dafür, dass die Kinder behandelt werden. Wenn die Kinder Traumata zu bewältigen haben, stehen ihnen die psychologisch geschulten Mitarbeiterinnen auch mit Gesprächen zur Seite. Sie bringen ihnen Notizbücher und leiten sie an, über sich selbst zu schreiben: «Das Tagebuch kann Trost sein und Teil der Verarbeitung», erläutert Sozialarbeiterin Martha Eshetu, die Tebkas Familie betreut.
«Ich war bei meiner Freundin. Sie hatte Geburtstag. Sie bekam neue Schuhe. Bald werde ich 13. Ich frage mich, ob ich auch ein Geschenk bekomme. Der Zweifel macht mich traurig. Also schreibe ich meine Gefühle auf. Es ist, als ob ich mit einer Freundin rede: Es erleichtert mich. In der Schule habe ich gute Noten. Wenn ich weiter fleissig lerne, werde ich eine gute Zukunft haben. Martha sagt, ich sei gescheit und ich könne an mich glauben!»
«Keiner, der nicht selbst schreibt, weiss, wie toll Schreiben ist», heisst es im «Tagebuch der Anne Frank». «Ich kann alles abschütteln, wenn ich schreibe; meine Sorgen verschwinden, mein Mut wird wiedergeboren», notierte die 14-jährige Autorin. Wer schreibt, nimmt seine eigene Geschichte in die Hand. Die Worte auf dem Papier schaffen Distanz zum Erlebten und ermöglichen es, die eigene Rolle neu zu definieren. Die Magie liegt nicht nur im Ausdruck von Gefühlen, sondern auch darin, sich selbst zu formen und einen inneren Halt zu finden.
Sozialarbeiterin Martha sei der wichtigste Mensch in ihrem Leben nach ihrer Mutter und Schwester, sagt Tebka. Die Sozialarbeiterin brachte Bücher für Englisch und Physik und gab Nachhilfe. Sie erzählte ihr, wie man möglichst effektiv lernt. Noch weiss Tebka nicht, wohin ihr Weg sie führt. Aber sie hat Pläne.
«Ich will gerne Sängerin werden und im Fernsehen auftreten. Dann verdiene ich viel Geld. Ich werde es meiner Mutter geben. Wir werden glücklich sein.»
Vielleicht wird Tebka einmal einen anderen, weniger glamourösen Beruf ergreifen. Sicher ist: Sozialarbeiterin Martha und das Team von Menschen für Menschen helfen weiter. Damit Kinder wie Tebka wieder träumen.
Warum wir helfen
Die ärmsten Familien in der Stadt Debre Berhan sind meist alleinerziehende Mütter und ihre Kinder. Es gibt kein Geld für Schulbedarf. In den engen Unterkünften herrscht Nahrungsmangel. Viele Mütter sind am Ende ihrer Kraft. Deshalb fördern wir die allerärmsten dieser Kinder und ihre Mütter mit unserer «Hilfe zur Selbstentwicklung
Was wir tun
Einige unserer Aktivitäten:
- Die Kinder bekommen Schuluniformen, Stifte und Hefte – jedes Kind hat ein Recht auf Schule!
- Die Wohnsituation ist häufig nicht menschenwürdig. Wir bauen Sozialwohnungen in traditioneller Lehmbauweise.
- Wir schulen die Mütter in Selbsthilfegruppen. Sie bekommen Mikrokredite über 80 bis 200 Franken.
- Unsere Mitarbeiterinnen sind vielfältige Stützen im Alltag. Sie beraten die Frauen fachlich bei der Gründung eines Kleingewerbes.
- Auch für die Kinder sind sie Vertrauenspersonen bei allen Nöten. Eine Aktivität unter vielen ist die Anleitung zum Schreiben eines Tagebuchs.
Was wir erreichen
Das ganzheitliche Konzept wirkt: In den vergangenen drei Jahren haben wir 663 Familien unterstützt. 445 Familien konnten wir in die Unabhängigkeit entlassen: Dank unserer Starthilfen schaffen sie es jetzt allein. Den verbliebenen 218 Familien helfen wir weiter, zusammen mit weiteren Familien, die wir neu ins Projekt aufnehmen. Ab diesem Jahr haben wir das Projekt auf 1800 Kinder aus rund 900 Familien erweitert.
Auch die fünfzehnjährige Dinkuwa schreibt Tagebuch. Einige ihrer Gedanken und Erlebnisse teilt sie mit unseren Leserinnen und Lesern: