Der Wald ist ihre Lebensgrundlage – und ihr Stolz: Im Süden Äthiopiens bewirtschaftet das Volk der Gedeo den Boden seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur. Doch die üppige Landschaft täuscht. Der wachsende Bevölkerungsdruck bringt das traditionsreiche System an seine Grenzen. Im Bezirk Raphe liegen Hunger und Hoffnung dicht beieinander.
Die Berglandschaft strotzt vor Grün. Über die Hänge verteilt stehen Baumriesen, deren dunkles Blätterdach die Ensete überragt – Riesenstauden, die an Bananenpflanzen erinnern. Auch ihre mannshohen Blätter recken sich der Sonne entgegen. Aus der stärkereichen Staude machen die Menschen Kotcho, das Brot Südäthiopiens.
Im Schatten von Bäumen und Stauden gedeiht der berühmte Waldkaffee, Kennern als «Yirgacheffe» bekannt – so lautet der Name der nächstgelegenen Stadt. Dorthin bringen Waldbauern das schwarze Gold nach mühsamer Lese von Hand, auf dem Sozius von Motorrädern, auf Esel- und auf Menschenrücken. Unter den Kaffeesträuchern schliesslich, am Boden, wachsen Mangold, Bohnen, Kartoffeln, Kohl: Diese Wald- und Landwirtschaft in Stockwerken, wie sie das Volk der Gedeo betreibt, gilt als so einzigartig, dass sie die UNESCO zum Welterbe erklärte. Der Boden bleibt durch das dichte Blätterdach feucht, Erosion wird verhindert, die Pflanzen helfen sich gegenseitig. Ohne Dünger oder künstliche Bewässerung holen die Familien Erstaunliches aus kleinen Flächen heraus.
Die Schweizer Äthiopiens
«Wir sind Gedeo», sagt Bauer Tariku Kebede, 40. «Der Wald ist unser Leben.» An einem Ort wächst alles, was die traditionellen Gemeinschaften in dem Volk mit rund eineinhalb bis zwei Millionen Menschen brauchten: Neben der Ensete und dem lebenswichtigen Kaffee liefert der Wald auch Brennholz, Baumaterial, Futtergräser und Heilkräuter für das Vieh – ein System, das über unzählige Generationen hinweg perfektioniert wurde. Nicht unähnlich den traditionellen Wirtschaftssystemen in den Alpen, weshalb manche Reisende die Gedeo als «Schweizer Äthiopiens» bezeichnen.
«Wir Gedeo sind in ganz Äthiopien als friedliebende Gemeinschaft bekannt», sagt Bauer Tariku. «In anderen Gegenden findet man auf Schritt und Tritt Leute mit Gewehren, Speeren oder zumindest Stöcken. Bei uns nicht.» Streit werde nicht mit Gewalt gelöst, sondern im Kreis der Ältesten besprochen. «Frieden ist unser Motto», sagt Tariku. Diese Haltung prägt den Alltag. Wer Hilfe auf dem Feld braucht, fragt einen Nachbarn – und bekommt Unterstützung. Man besucht sich gegenseitig, trinkt gemeinsam Kaffee, hört einander zu: «Wir wollen uns immer für den Frieden einsetzen.»
Auch die Arbeitsmoral der Gedeo beeindruckt. Die Hänge sind steil, alles geschieht in Handarbeit, Pflanze für Pflanze. «Wer hier nicht hart arbeitet, kommt nicht weit», sagt Tariku. «Wir haben keine Traktoren. Aber wir haben Ausdauer.»
Die Fruchtbarkeit des Landes täuscht
Trotzdem kommt das traditionelle System an seine Grenzen. Die Bevölkerung wächst rasant. Raphe ist mit 162 Quadratkilometern so gross wie der Kanton Appenzell Innerrhoden, hat aber sechsmal so viele Einwohner – rund 98'000. Die Nachkommen teilen das Land der Väter unter sich auf. Mit jeder Generation erbt jede Familie ein immer kleineres Stück Land. Drei von zehn Haushalten müssen mit weniger als einem Viertel Hektar auskommen – das ist nicht einmal ein Drittel eines Fussballfelds. Fast drei Viertel verfügen über weniger als einen halben Hektar. Davon können die Familien trotz der Stockwerknutzung nicht leben.
So verbirgt sich in Raphe unter dem Mantel der üppigen Landschaft eine überraschend bittere Not. Dies zeigte eine Basisstudie von Menschen für Menschen mit 377 Familien zu den Lebensumständen im Bezirk. Neun von zehn Familien gaben an, nicht das ganze Jahr über genug zu essen zu haben. Mehr als zwei Drittel der Familien sind demnach in der Woche vor der Befragung mindestens einmal ohne Abendessen zu Bett gegangen.
Hundert Prozent Zinsen – oder mehr
Eine wesentliche Hürde ist der fehlende Zugang zu Finanzdienstleistungen. Es existieren weder Banken noch offizielle Kreditmöglichkeiten. Wer investieren möchte – in Dünger, Saatgut oder einfache Werkzeuge – ist auf private Geldverleiher angewiesen. Doch deren Zinsen betragen oft hundert oder mehr Prozent im Jahr, sodass sich Investitionen nicht lohnen. Die Folge: Die landwirtschaftlichen Erträge stagnieren, die Not wächst.
Hinzu kommen hohe Kosten bei Krankheiten, die durch verschmutztes Wasser verursacht werden. Die meisten Menschen sind auf offene Wasserstellen wie Bäche oder nicht gefasste Quellen angewiesen. Diese sind häufig verunreinigt, was vor allem bei Kindern zu schweren Durchfallerkrankungen führt – mit gravierenden Folgen für ihre Entwicklung und Gesundheit.
So schildern auch Älteste und Gemeindevertreter die Situation bei einer Bürgerversammlung, als die Co-Geschäftsführer Claudio Capaul und Michael Kesselring den Bezirk erkunden. Die Luft im Lehmhaus ist zum Schneiden dick. Dicht an dicht sitzen die rund fünf Dutzend Männer auf grob gezimmerten Bänken, unter einer niedrigen Decke. Die wenigen Frauen dazwischen kann man an einer Hand abzählen. Älteste berichten, dass es keine befestigten Strassen gibt, nur Staubpisten, die sich in der Regenzeit in Schlammbahnen verwandeln und unpassierbar werden. Dass die Kinder in zugigen Schulhäusern ohne Fenster und richtige Möbel unterrichtet werden. Von der fernen Regierung fühlen sie sich vergessen. Es gab bislang auch keine internationalen Nichtregierungsorganisationen oder Hilfswerke im Bezirk.
Kinder kommen ungeplant
Dann erhebt sich eine Frau in der zweiten Reihe. Sie heisst Shibre Tamirat, ist Mutter von vier Kindern und wirkt selbstbewusst. «Ja, wir haben viele Probleme in der Gemeinde», hebt sie an. «Aber wir alle wissen hart zu arbeiten. Wir wissen, dass das neue Projekt von Menschen für Menschen unsere Chance ist. Wir wollen uns einsetzen dafür!»
Eine Verbesserung der Lebensumstände sei dringlichst geboten, vor allem für die Frauen, besonders aber für die werdenden Mütter: «Mangelernährung führt oft zu Komplikationen.» Das nächste Hospital ist über einen Tagesmarsch entfernt – schnell kann eine eigentlich beherrschbare Komplikation lebensbedrohlich werden für Mutter und Kind. Die Nahrung reicht nicht, weil sie unter zu vielen aufgeteilt werden muss. «Unsere Bevölkerung ist sehr gross und wächst ständig», betont Shibre Tamirat. «Wir brauchen Mittel und Wege, um das weitere Wachstum einzudämmen.»
Sie ist eine der wenigen Frauen im Distrikt, die zwölf Jahre in der Schule war, wohl deshalb spricht sie in der Versammlung so selbstverständlich. Doch auch die meisten anderen Frauen haben schon von Familienplanung gehört. Aber vom Wissen zur Anwendung ist es kein selbstverständlicher Prozess, verdeutlicht die Rednerin. Vor allem auch, weil die staatlichen Gesundheitseinrichtungen zwar theoretisch Anti-Baby-Pillen und Verhütungsspritzen anbieten – aber praktisch die Präparate oft nicht vorrätig sind. Sie finden den Weg nach Raphe nicht, weil es immer wieder Lücken in der Logistik der Gesundheitsverwaltung gibt. «Auch ich konnte zeitweise keine Verhütungsmittel bekommen», sagt Shibre Tamirat. «Zwei meiner vier Kinder waren ungeplant.»
Um Ernährungssicherheit und Lebensperspektiven zu sichern, setzt Menschen für Menschen nun als erstes und einziges Hilfswerk in Raphe nicht nur auf landwirtschaftliche Förderung – mit Schulungen, verbessertem Saatgut und leistungsfähigem Vieh. «Wir sorgen mit unseren Fahrzeugen jetzt dafür, dass in den Gesundheitsstationen der Dörfer immer Verhütungsmittel vorrätig sind», betont Co-Geschäftsführer Claudio Capaul. Neben der Antibabypille fragen Frauen vor allem Dreimonatsspritzen nach.
Shibre Tamirat, die redegewandte Frau aus der Bürgerversammlung, wird jetzt zur Familien- und Nachbarschaftsberaterin ausgebildet. In jedem Dorf schult Menschen für Menschen zwölf sogenannte Peer Educator – Frauen wie Männer. Sie erhalten fundiertes Wissen über Themen wie reproduktive Gesundheit, Hygiene, Ernährung, ökologische Landwirtschaft und den Schutz natürlicher Ressourcen. Dieses Wissen geben sie in Gesprächen, Gruppentreffen und Hausbesuchen weiter. «Ich werde die Menschen unterrichten und Aufklärung schaffen», sagt Shibre Tamirat. «Nur Bildung wird die Situation verbessern.»