«Ich schreibe mich stark»
Denkuwa hat früh verstanden, dass nicht alles im Leben erklärt wird. Beim Schreiben findet sie Halt, reflektiert ihre Erlebnisse – und blickt mutig nach vorn.
Ich schreibe Tagebuch. Nicht, weil ich muss, sondern weil es mir hilft. Wenn ich traurig bin oder wütend, schreibe ich. Wenn ich etwas träume, das ich niemandem sagen kann – weil andere vielleicht darüber lachen würden – schreibe ich es auf.
Meine Tante war für mich wie eine Mutter. Als sie vor etwa acht Jahren starb, habe ich nicht verstanden, was passiert ist. Niemand hat es mir erklärt. Ich fragte mich lange, wann sie zurückkommt. Erst später habe ich verstanden: Sie kommt nicht zurück.
Nach ihrem Tod nahm ihre Tochter Aberash mich auf. Sie hat drei Kinder. Ihr Leben ist schwierig. Ihre Kinder haben verschiedene Väter. Einer ist tot, einer ist verschwunden, einer kümmert sich nicht um seine Tochter. Aberash arbeitet hart. Früher lebten wir von Essensresten, um die wir in Hotels und in der Kantine der Universität baten. Heute verkauft Aberash gebrauchte Kleidung auf dem Markt. Sie hat Schulungen bekommen und einen Mikrokredit, durch das Kinderprojekt von Menschen für Menschen. Seither hat sich vieles verändert. Auch für mich.
Ich bekomme Unterstützung in der Schule. Ich habe von Judit, der Sozialarbeiterin gelernt, besser mit meinen Gefühlen umzugehen. Und ich habe gemerkt: Schreiben ist meine Kraft.

Als ich klein war, habe ich in Restaurantküchen um Essen gebettelt. Ich wusste, es hilft der Familie. In mein Tagebuch habe ich geschrieben: Man sollte nicht schlecht über Menschen denken, die betteln. Niemand kennt ihr Leid. Ich träume viel. Ich möchte Tänzerin werden. Oder Schauspielerin. Vielleicht auch Tanzlehrerin. Meine Lehrer sagen, ich habe Talent. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen.
Ich bin auch gut in der Schule. Letztes Jahr war ich die Drittbeste in meiner Klasse. Ich mag Naturwissenschaften. Vielleicht werde ich Ärztin. Oder Reiseleiterin. Ich würde gern reisen, Neues sehen, andere Länder entdecken. Aber bis jetzt war ich nie wirklich weg. Ich habe Debre Berhan noch nie verlassen. Nur drei alte Kirchen in der Umgebung habe ich besucht – das war meine bisher grösste Reise.
Ich heisse eigentlich Dinkenesh mit meinem Taufnamen – so lautet auch der äthiopische Name von Lucy, dem berühmten Skelett eines Urmenschen. Ich will mehr über Äthiopien lernen. Und später vielleicht über andere Länder. Ich möchte sehen, wohin das Leben mich führt.

Einmal wurden wir durch das Kinderprojekt in ein Hotel eingeladen. Früher hatte ich dort Essensreste geholt. Die Wachmänner hatten mich damals angeschrien und fortgeschickt, manchmal auch getreten. Aber durch das Kinderprojekt stand ich nun am Buffet – durfte selbst auswählen, was ich esse. Ich war eingeladen. Ich war willkommen. Das war der schönste Tag meines Lebens.
Wenn ich mein Tagebuch lese, sehe ich ein Mädchen, das verletzlich ist. Und stark. Ein Mädchen, das zuhören kann. Das nachdenkt. Das durchhält. Ich sehe mich. Und ich mag dieses Mädchen. Sehr sogar.
Auch die 12-jährige Tebka schreibt Tagebuch. Einige ihrer Gedanken teilt sie mit unseren Leserinnen und Lesern: