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Gesichter der Armut

Viel Glück schafft man nur zusammen

Warum gibt es in Afrika immer noch Armut? Und wie können sich Menschen daraus befreien? Wer Antworten will, muss dorthin, wo Menschen für Menschen täglich ist: auf dem Land in fensterlosen Rundhütten. In der Stadt in aneinander geduckten Unterkünften aus Lehm und Blech. Ein Besuch bei Menschen, die es schaffen wollen – und eine Erkenntnis: Glück und Entwicklung lässt sich vor allem gemeinsam mit anderen schaffen.


Das Dorf

KUHDUNG IST IN ÄTHIOPIEN EINE RESSOURCE. Er wird dem Lehm beigemischt, um damit Wände zu verputzen. Getrocknet dient der Dung als Brennstoff in den Feuerstellen der Küche. Wohl deshalb lautet ein äthiopisches Sprichwort: «Kuhfladen können nicht gesammelt werden, wo keine Kuh war.»

Anders gesagt: Wer schon Besitz hat, der bekommt noch mehr dazu. Wer nichts hat, der bekommt – nichts. Und bleibt extrem arm. So wie Fikre Demeke aus dem Dorf Odomike im Landkreis Abaya. Von einer Kuh, die Milch für ihre sechs Kinder gibt, kann die 30-jährige Mutter nur träumen.

Vor einem Jahr stürzte ihr Mann beim Ernten von Avocado sechs Meter tief von einem Baum. «Seit dem Sturz hat er ein Rückenleiden», erzählt Fikre Demeke. Er kann kaum noch arbeiten. Geld für eine Behandlung hat die Familie nicht. «Jetzt liegt die Last ganz auf mir», sagt Fikre. Ihr Tag mit Haushalt, Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung dauert 17 Stunden.

Die Dreissigjährige röstet und verkauft Maiskolben an einer Strassenecke der staubigen Kleinststadt Gangua unweit ihres Dorfes. Dazu braucht sie Holzkohle, einen einfachen Grill, frischen Mais. Dafür hatte sie kein Geld. Also nahm sie bei einem Geldverleiher einen Kredit auf. Umgerechnet 17 Franken. Dieses Geld bedeutet für Fikre eine Schuldenfalle.

Pro Tag macht sie einen Profit von etwa 85 Rappen. Doch die Hälfte ihres täglichen Verdiensts fordert der Geldverleiher als Zins! Wer extrem arm ist, hat keine andere Wahl, als sich auf derartigen Wucher einzulassen. «Ohne den Kredit würde ich gar nichts verdienen», sagt Fikre. «Die Sorgen drücken mich nieder, aber ich muss stark sein für meine Kinder.» Ihre Stimme ist tonlos, ihre Schultern eingesunken. Auf ihrem Schoss ist Kaku eingeschlafen, ihr Jüngster. Er schnarcht leise.

Das wenige Geld, das Fikre verdient, geht komplett in Grundnahrungsmittel. Sie kann nichts zurücklegen, um ihren Kredit abzulösen: Die Falle hat keinen Ausweg.

Die extreme Armut von Fikre hat diese Gründe:

  • Schädliche Tradition: Auf dem Land müssen die Mädchen oft früh heiraten Auch Fikre wurde mit 15 Jahren von ihren Eltern zur Ehe gezwungen, so wie es die Sitte vorsah.
  • Fehlende Bildung: Fikre war nie in einer Schule. Wer gebildet ist, kann sich gegen Unrecht wehren – und weiss, wie man Familienplanung betreibt. Fikre ist erst 30 Jahre alt, hat aber schon sechs Kinder.
  • Rechtlosigkeit: Fikre kann keine Sicherheiten bieten, sie hat keine Chance auf einen Kredit bei einer Bank – deshalb sind es die Ärmsten, die auf den empörenden Wucher privater Kredithaie eingehen müssen.

 

Fikre Demeke mit ihrem Jüngsten


Abaya im Süden von Äthiopien – eigentlich ein fruchtbarer Landstrich

Die Familien leben in Rundhütten, die oft nur aus einem Raum bestehen

Fikre Demeke ist auf Wucherkredite angewiesen und steckt in der Schuldenfalle

Fikre Demeke: „Ich muss stark sein für meine Kinder“

Allein hätte sie keine Chance, der Armut zu entkommen

Doch in der Frauen-Selbsthilfegruppe von Menschen für Menschen schöpft sie neue Hoffnung

Der Verkauf von Mais in der Kleinstadt Dilla trägt zum Einkommen bei

Fikre mit ihrem Jüngsten: Dass sie jetzt weniger Sorgen hat, kommt auch den Kindern zu Gute

„Das Allerbeste an meinem neuen Leben ist: Ich bin frei!“


Die Stadt

SZENENWECHSEL: Von Fikres Dorf in die Grossstadt. In Debre Berhan, einer Stadt mit 160’000 Einwohnern, leben Ashenafi Ayele und Abaynesh Bedada und ihre vier Kinder. Auch sie sind extrem arm. Aber sie haben einen selbstbewussten Blick, ihre Haltung ist aufrecht.

Ashenafi war früher Geschäftsmann, seine Frau Lehrerin. Jetzt haben sie nicht einmal Geld genug, um ihren Kindern Schulbedarf zu kaufen. Was ist passiert? «Früher war unser Leben wunderschön. Wir waren sehr glücklich», erinnert sich Tochter Zelot in einem Aufsatz. «Aber plötzlich gab es Unruhen. Unsere Ziegen und Esel wurden gestohlen und unser Haus niedergebrannt.» Zelot wurde in Shakiso in der Region Oromia geboren. In der Umgebung der Stadt im Süden Äthiopiens graben die Menschen Stollen in die Erde auf der Suche nach Gold. Ihr Vater Ashenafi war Händler, er kaufte den Goldsuchern die Nuggets ab und verkaufte sie in der Stadt weiter. So hatte er es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Doch dann bedrohten jugendliche Banden Ashenafi und seine Familie an Leib und Leben. Der Erfolg des Zuzüglers, der einer anderen Ethnie angehört, war ihnen ein Dorn im Auge.

«Wir flohen in die Stadt meines Vaters», schreibt Zelot weiter. «Als wir nach Debre Berhan kamen, hatten wir nichts. Nichts zu essen, keine Kleider zum Wechseln. Was mein Vater verdient, ist nicht genug, um Essen für uns alle zu kaufen.»

Wie lange hält eine Familie aber Mangel und Hunger aus? Viele extrem arme Familien in Äthiopien brechen auseinander. Und oft sind es die Frauen, die alles zusammenhalten. So wie Wucheropfer Fikre Demeke. Sie sind in einem Dasein, das kein richtiges Leben ist – nur ein Überleben.

Kaum eine Familie in Äthiopien ist vor extremer Armut gefeit. Im Fall von Zelots Eltern trugen diese Umstände zum Absturz bei:

  • Ethnische Spannungen: Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat. Mancherorts brechen deshalb Konflikte auf. An der Oberfläche geht es um die Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Aber die tieferen Ursachsen sind Armut und Kampf um die wenigen Ressourcen. Leittragende sind einzelne Familien.
  • Fehlender Wohlfahrtstaat: In ihrer Heimat war Zelots Mutter Abaynesh Lehrerin, die Unterrichtssprache war Oromia. Doch in Debre Berhan wird Amharisch gesprochen. Es gibt für Abaynesh keine Angebote zur Umschulung. Auch finanzielle Hilfen sind für die Flüchtlinge nicht verfügbar.
  • Struktur der Wirtschaft: Es fehlt ein starker Mittelstand als Job-Motor. Vater Ashenafi hat keine Chance auf eine angemessene Anstellung. Er ist froh, eine Stelle als Nachtwächter in einer Flaschenfabrik gefunden zu haben. Aber sein Monatslohn beträgt nur 34 Franken. Das reicht hinten und vorne nicht für zwei Erwachsene und vier Kinder.

Zelot (links) mit Eltern und Bruder Naod


Debre Berhan – eine Grossstadt in Äthiopien, Anziehungspunkt für viele Zuzügler

Nicht alle kommen freiwillig in die Stadt. Unter den Neubürgern sind auch Flüchtlinge

Die Familie musste ihr Hab und Gut aufgrund ethnischer Spannungen am alten Wohnort zurücklassen.

Doch ihr Geist ist ungebrochen – und dank unserer Hilfe erhalten sie die Chance auf einen Neuanfang

Ohne Ausweise kein Schulbesuch: Unsere Sozialarbeiterin half bei den schwierigen Behördengängen

Die Flüchtlingskinder erhielten Schulsachen

Besonders wichtig in der Pandemie: Zugang zu Hygiene

Dank eines Mikrokredits besitzt die Familie Schafe, die auf dem Markt einen guten Preis erzielen

Nach einer Schulung baut die Familie rund um ihre Sozialwohnung Gemüse an

Zelot (Links) freut sich auf die Zukunft: „Ich werde Raketenkonstrukteurin oder Krankenschwester“


DIE ARMUT BESIEGEN:

Die Lage heute: So wirkt unsere Hilfe

Das Dorf

«DAS LEBEN IST GUT!», sagt Fikre Demeke in ihrem Dorf und lacht. Vor zweieinhalb Jahren war sie ein Bündel der Verzweiflung. Jetzt strahlt sie vor positiver Energie und zählt ihre Erfolge auf. «Ich habe acht Ziegen. Ich konnte ein kleines Stück Land mit Kaffeesträuchern und Bananenstauden erwerben. Wir essen drei Mal am Tag – und jedes Mal etwas anderes. Und meine Kinder gehen zur Schule!» Auch in der Stadt, in der kleinen Wohnung der Flüchtlingsfamilie, spürt man eine neue Ruhe. «Meine Eltern sind nicht mehr so unter Stress», schreibt Zelot in ihr Tagebuch. «Sie arbeiten hart. Sie wollen uns glücklich machen.»

In beiden Familien brachten die Hilfsprojekte von Menschen für Menschen die Wende – mit ähnlichen Methoden:

  • Selbsthilfegruppen: Wie Fikre Demeke sind die meisten Mütter Opfer von Tradition und Umständen. Ihr Potential muss geweckt werde. Deshalb bringen wir die Frauen in Gruppen zusammen, in denen sie sich gegenseitig stützen. Wir unterrichten sie – beispielsweise in den Grundlagen des Wirtschaftens, wie man spart und ein Kleinstgewerbe führt. Daneben lernen die Frauen ganz nebenbei die Eigenschaft, die vielleicht am allerwichtigsten ist: Selbstwertgefühl. Fikres Gruppe hat sich den Namen «Charagari» gegeben. Das heisst übersetzt: «Viel Glück».
  • Mikrokredite: Wir versorgen die Frauengruppen mit Startkapital, um es an die Mitglieder zu verleihen. Fikre Demeke nahm einen Kredit über umgerechnet 100 Franken auf. Sie löste damit den Wucherkredit ab. Sie kauft Kaffeekirschen bei den Bauern und verkauft sie weiter an Kaffeehändler. Auch mit Mango und Bananen handelt sie. Mit dem Bus fährt sie 100 Kilometer weit in die Stadt Hagere Mariam und kauft dort zwei Reisetaschen voller T-Shirts und Plastikschuhe, die sie im Dorf mit kleinem Aufpreis verkaufen kann.

Fikre mit Kaffeekirchen die sie handelt

Was wir auf dem Land erreichen

In den ländlichen Bezirken Gelana und Abaya ist die Landwirtschaft rückständig und ineffizient. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung. Durchschnittliche Familien haben die Hälfte des Jahres nicht genug Nahrung zur Verfügung.

  • 4129 Bäuerinnen und Bauern erhielten im vergangenen Jahr Schulungen
  • 1149 Einheimische, vor allem Frauen, haben sich in neun Spar- und Mikrokredit-Gruppen organisiert
  • 2304 Männer und Frauen hörten Vorträge zu Familienplanung
  • 139 Frauen erhielten erstmals einen Mikrokredit

Die Stadt

Auch Abaynesh Bedada, die Mutter aus der Flüchtlingsfamilie ist in der Stadt Debre Berhan in eine Selbsthilfegruppe eingetreten und hat dort einen Mikrokredit erhalten. Sie investierte das Geld zunächst in Hühner und verkaufte Eier. Dann entdeckte sie, dass die Mast von Lämmern profitabler ist und kaufte deshalb mit ihrem zweiten Mikrokredit drei Mutterschafe. «Wenn Covid vorbei ist, möchte ich ein kleines Strassenrestaurant eröffnen», sagt sie. «Ich habe meine Zuversicht zurück.»

  • Schulbildung: «Ohne Bildung keine Entwicklung », sagte unser Gründer Karlheinz Böhm. Nur wenn die Kinder zur Schule gehen, können sie der Armut langfristig entkommen. Wir helfen den Familien in Debre Berhan mit Schulbedarf und Schuluniformen, damit sie den Unterricht besuchen können. «Wir könnten uns nicht einmal die Uniform für ein Kind leisten», sagt Abaynesh. «Dank Menschen für Menschen gehen alle in die Schule.»
  • Familienplanung: Der Jüngste von Fikre heißt «Kaku». Das bedeutet auf Deutsch: «Es ist genug.» Fikre hat in der Selbsthilfegruppe alles über Verhütung erfahren. Sie liess sich in der Gesundheitsstation ein Hormonstäbchen unter die Haut des Oberarms applizieren. Es schützt jahrelang vor einer Schwangerschaft.

«Das Allerbeste an meinem neuen Leben ist: Ich bin frei», betont Fikre. Denn jetzt brauche sie keine Wucherkredite mehr. «Im Gegenteil: Jetzt verleihe ich sogar Geld.» An Nachbarn, die in Not geraten, etwa durch eine Krankheit beispielsweise. «Aber ich nehme keine Zinsen», sagt Firke. «Ich weiss, wie es sich anfühlt, wenn dir die Luft zum Atmen fehlt.» Im Häuschen in der Stadt sitzt Zelot und schreibt ein Gedicht.

Sie schreibt: Ich sehe ein gutes Morgen. Ich werde eine Wissenschaftlerin sein. An einer Raumrakete bauen. Ich werde eine Krankenschwester sein. Und anderen helfen. Also lerne ich heute. Ich bereite mich vor. Für meinen Traum von morgen.

Abaynesh züchtet jetzt Schafe

Was wir in der Stadt erreichen

Die Eltern der 1000 ärmsten Kinder in der Grossstadt Debre Berhan sind extrem arm. Schulmaterial ist für sie nicht erschwinglich, auch die Ernährung ist nicht gesichert und ihre Wohnsituation in den Slums oft menschenunwürdig.

  • Die 1000 geförderten Kinder müssen die Schule nicht mehr aufgrund von Armut abbrechen
  • 181 Frauen schlossen sich im vergangenen Jahr in 14 neuen Selbsthilfegruppen zusammen
  • 213 Mitglieder nahmen Mikrokredite auf, im Durchschnitt 90 Franken
  • 24 Familien konnten in menschenwürdige Wohnungen einziehen