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Ein Mädchen in Äthiopien: Yerus bleibt stark

Wie nachhaltig ist unsere Hilfe? Wie stabil kommen Familien, die dank unserer Spender aus extremer Not fanden, durch die Corona-Krise? Antworten liefert Yerus, 14. Wir schildern Momente aus ihrem Leben in den vergangenen Jahren.

Yerus mit Mutter Sasahu aus Debre Berhan

Yerus und ihre Mutter Sasahu, fotografiert 2019, vor der Corona-Pandemie.

DIE MUTTER LIEGT AUF DEM BETT. Die Brandwunden an den Händen sind nicht das Schlimmste. Sie hat Schmerzen in den Nieren. Sie fühlt sich schwach und abgeschlagen. «Diese schreckliche Arbeit ist schuld», sagt sie leise.

Wir schreiben das Jahr 2018, es ist ein schlimmer Tag von vielen für Sasahu, eine Frau Anfang 30, die als Rösterin in einer Manufaktur in der Stadt Debre Berhan arbeitet. Sie röstet Mais, Gerste, aber vor allem Kichererbsen. Sie sind die Grundlage für Shiro, der Brei, der in Äthiopien zum Fladenbrot gegessen wird. Die Arbeiterinnen stehen an Feuerstellen, darüber sind auf einem Lager aus Steinen Eisenpfannen gelegt. Zweige und Scheite sind nicht getrocknet, der Rauch reizt Augen, Nase, Hals. Mit Holzlöffeln bewegen die Arbeiterinnen die Kichererbsen in den Pfannen. Die Hitze ist kaum zu ertragen. Debre Berhan liegt auf 2800 Meter Höhe, die Tage sind oft kalt und feucht. Dieser Temperaturunterschied sei es, der sie krank macht, vermutet Sasahu.

Manchmal sagt der Chef, die Kichererbsen seien schlampig geröstet und zieht Sasahu Lohn ab. Sie kann sich nicht dagegen wehren. Als Ungelernte findet sie keine andere Arbeit. Auch ihr Mann arbeitet als Tagelöhner. Der gesamte Verdienst geht in Miete und Lebensmittel. Sie essen schlecht.

Yerus sitzt am Bett und hat Angst. «Was, wenn Mama stirbt?», fragt sich die Zwölfjährige. Die Niedergedrücktheit folgt ihr schon lange. Sie taucht auf wie eine Wolke, wird immer finsterer und wirft ihre Schatten auf alles. «Wird Mama uns im Stich lassen, weil sie das Leben nicht mehr aushält?»

Stadt Debre Berhan, Äthiopien

Debre Berhan, Äthiopien.

Jahr 2019

WAS FÜR SCHÄTZE! Reis, Spaghetti, Kaffee, Tee, Zimt und Berbere, das scharfe Gewürz Äthiopiens. Teff- Mehl und Shiro-Pulver. Speiseöl, Seife, Waschmittel, Süssigkeiten. Glühbirnen, Ohrringe, Damenbinden, Haarclips, Kekse, Holzkohle, Streichhölzer, Socken, Schnüre, Schreibhefte. Alles, was der Mensch braucht, gibt es jetzt bei Sasahu. Nur keine Zigaretten. «Ich mag den Rauch nicht.» Sie lächelt.

Sasahu ist nun, im Mai 2019, stolze Ladenbetreiberin! Menschen für Menschen hat Yerus ins Kinderprojekt für die 1000 ärmsten Kinder und Jugendlichen der Stadt aufgenommen. Dieses sieht vor, dass auch die Eltern in ihrem beruflichen Fortkommen gefördert werden. In einer Selbsthilfegruppe zusammen mit anderen Müttern konnte Sasahu einen Kurs in betriebswirtschaftlichen Grundlagen belegen. Dann erhielt sie einen Mikrokredit – sie mietete einen kleinen Raum und begann ihr Ladengeschäft, konnte es von Monat zu Monat erweitern. Sie ist beliebt in der Nachbarschaft, die Leute kommen gerne. Ihre Nierenschmerzen sind besser geworden, nachdem sie nicht mehr als Rösterin arbeiten muss. Auch nach Abzug der Ladenmiete bleibt Sasahu mehr als das Monatsgehalt eines Lehrers.

Yerus mit Schulbuch

„Ich habe keine Angst mehr. Ich bin happy“

«Ich bin happy», sagt Yerus. «Ich habe keine Angst mehr um Mama.» Früher habe sie sich manipulieren lassen, überlegt sie. «Ich war niedergeschlagen. Um meine Gefühle zu vergessen, bin ich lieber mit Freundinnen auf der Strasse rumgehängt, als zu lernen.» Das «Life Skill Training» von Menschen für Menschen habe sie verändert, meint Yerus: Die Sozialarbeiterinnen geben ihren Schützlingen einen kind- und jugendgerechten Grundkurs in Psychologie und Lebenshilfe. «Mir ist dort zum ersten Mal klar geworden, warum ich etwas tue und was wirklich gut für mich ist.» Sie sei jetzt zielgerichtet und unter den Besten in der Klasse: «Ich möchte Schauspielerin werden. Es muss wunderbar sein, in andere Rollen zu schlüpfen.»

In dem kleinen gebrauchten Fernseher, den sich die Familie jetzt leisten kann, sehen Sasahu und Yerus, wie wohlhabende Menschen leben. Fühlen Sie Neid? «Nein. Wir sind jetzt eine glückliche Familie», sagt Sasahu. «Am glücklichsten bin ich beim Abendessen»: Der Laden ist zugesperrt, das Tagwerk vollbracht. Draussen ist es dunkel und kalt und irgendwo bellen Hunde, aber die Hütte ist von einer Glühbirne erleuchtet und warm von der Feuerstelle: «Dann danke ich Gott, dass wir zusammen und gesund sind.»

Nur eine Sache wünsche sie sich, überlegt Sasahu: «Ein eigenes Haus. Und einen eigenen Laden.» Bislang muss sie beides mieten. «Das schafft Unsicherheit.» Der Besitzer des Ladenraums sagte, er wolle ihr kündigen, wegen Eigenbedarfs. «Besitz bedeutet Freiheit», sagt Sasahu.

Jahr 2020

ES IST ANFANG OKTOBER, als Yerus die Maske anlegt und die Wohnung verlässt. Sie geht durch die Schotterstrassen von Debre Berhan, achtet sorgsam darauf, dass sie Abstand hält zu den Passanten. Ihr Ziel ist das Projektbüro von Menschen für Menschen. Vor dem Laptop-Monitor nimmt sie die Maske ab. Das Gesicht der mittlerweile 14-Jährigen im Video-Interview ist ernst, aber unverzagt. Sie wirkt gelassen und stark.

Ein Foto von 2019. Heute besucht Sozialarbeiterin Mulu die Familie mit Mundschutz.

Das Mädchen ist seit einem halben Jahr wie eingesperrt in der kleinen Wohnung, in der sie mit Vater und Mutter lebt: Sie sieht nur eine einzige Freundin, aus Angst vor Covid-19. Alle Schulen in Äthiopien schlossen Mitte März. Über ein halbes Jahr später sind sie immer noch zu.

Kinder in Äthiopien haben keine Ipads und keine Laptops. Digitaler Unterricht ist nicht möglich. Einmal die Woche schlagen die Lehrer am Schultor die Aufgaben an. Dann müssen die Schüler alleine lernen. Ohne jedes Feedback: «Es gibt keinen Kontakt zu den Lehrern», erzählt Yerus. «Ich hoffe so sehr, dass Corona bald vorbei ist und die Schule wieder aufmacht!»

Nur daheim fühle sie sich wirklich sicher vor dem Virus, sagt Yerus. Aber wenn man 14 ist und seine Freunde nicht sehen, nicht zur Schule, nicht zum Sport und nicht zur Theatergruppe kann, dann werden die achtzehn Quadratmeter Zuhause auch zu einem Gefängnis. Zumal Yerus keine Geschwister hat.

Umso wichtiger ist ihr der Besuch von Sozialarbeiterin Mulu (hier finden Sie ein Interview mit der Fachfrau). Zwar hat Menschen für Menschen Yerus´ Familie aus der Förderung entlassen: Dank des erzielten Einkommens der Mutter gehört die Familie nicht mehr zu den Ärmsten – an ihrer Stelle wurde eine neue Familie ins Projekt aufgenommen. Trotzdem kommt Mulu regelmässig vorbei: Die Fachfrau wurde zu einer Freundin der Familie.

«Wie geht es dir, Yerus, ganz persönlich?» – «Klar, Corona und ohne Freundinnen sein, das stresst. Aber eigentlich bin ich meistens trotzdem ziemlich happy.» – «Warum kannst du so stark bleiben?» – «Meine Mutter ist gesund. Es geht uns gut, vergleichsweise. » Den gemieteten Laden hat die Mutter zwar aufgeben müssen, weil ihr der Besitzer den Mietvertrag kündigte. «Aber Mama konnte schnell umschwenken», erklärt Yerus – in den beruflichen Kursen von Menschen für Menschen hat sie sich das Wissen angeeignet, um flexibel sein zu können: «Heute handelt sie mit Tomaten und Zwiebeln auf dem Markt.» So hat die Familie auch während der Corona-Krise genug, um für sich selbst zu sorgen. Jetzt gehe es darum, gut durch diese schlimme Zeit zu kommen, meint Yerus. Aber die Pläne und Träume seien ungebrochen. «Meine Mutter möchte immer noch einen eigenen Laden», sagt der Teenager. «Und ich träume weiterhin davon, Schauspielerin zu werden!»


WAS WIR TUN

Ohne Hilfe von aussen haben die 1000 ärmsten Kinder in der Grossstadt Debre Berhan keine Chance. Wir fördern umfassend ihre Gesundheit, Schulbildung und Wohnsituation. Damit ihre Familien unabhängig werden von fremder Hilfe erhalten die Eltern berufliche Bildung und Mikrokredite, um kleine Gewerbe beginnen zu können. Noch nicht alle Familien im Projekt sind bereits ähnlich unabhängig wie Yerus´ Mutter Sasahu. In der Corona-Zeit haben viele Eltern ihre Arbeit verloren. Unsere Sozialarbeiterinnen untersuchen, welche Kinder in Gefahr sind, Hunger zu erleiden. Aktuell erhalten 249 Kinder Nothilfe-Pakete mit Grundnahrungsmitteln.


Ihre Spende

Mit 50 Franken sorgen Sie in der Corona-Krise dafür, dass ein Kind einen Monat lang mit dem Nötigsten versorgt wird.

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