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Geschäftsführer Kelsang Kone im Interview:

«Afrika braucht Abiy – und Europa auch»

Der Friedensnobelpreis 2019 geht zum ersten Mal nach Äthiopien. Wer ist Premierminister Abiy Ahmed – und was will er erreichen? Kelsang Kone ist Geschäftsführer von Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe «Menschen für Menschen». Das Schweizer Hilfswerk ist seit über 30 Jahren in Äthiopien tätig.

Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed.

Herr Kone, hat Abiy Ahmed den Friedensnobelpreis verdient?

Ja. Seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2018 hat er Äthiopien grundlegend verändert. Dabei legte er ein unglaubliches Tempo an den Tag. Bereits in den ersten Monaten hat er tausende politische Gefangene befreit und korrupte Politiker und Beamte entlassen. In der Bevölkerung gab ihm diese Entschlossenheit einen grossen Popularitätsschub.

Was sind seine grössten Erfolge?

Schon jetzt hat Abiy Afrika verändert: International hat wohl der Friedensprozess mit Eritrea am meisten für Aufsehen gesorgt. Ein Konflikt, der seit Jahrzehnten brodelte. Was Äthiopien selbst angeht: Für uns, die wir in Freiheit aufgewachsen sind, ist es schwer zu verstehen, was das Aufheben der politischen Verfolgung und das Erreichen von Pressefreiheit für die Bevölkerung bedeutet. Die Menschen äussern sich heute öffentlich über Politik – auch gegenüber Fremden. Das war vor Abiy nicht denkbar. Und ganz wichtig: Er treibt die Gleichstellung der Frauen voran. Die Hälfte der Ministerposten wird von Frauen eingenommen. Es gibt eine Staatspräsidentin und eine oberste Richterin.

Warum kam Abiy überhaupt an die Macht?

Vor seiner Wahl war Äthiopien in Aufruhr. Die Regierung wurde von der Volksgruppe der Tigray dominiert. Die grössten Volksgruppen der Amhara und Oromo fühlten sich nicht genug vertreten. Verbunden mit grosser Armut und Perspektivlosigkeit der Jugend ergab das eine explosive Mischung. Sein Vorgänger Hailemariam Desalegn trat nach jahrelangen Protesten zurück. Allein schon Abiys Herkunft wirkte entspannend: Sein Vater ist Muslim und Oromo, seine Mutter Christin und Amhara. Somit konnten sich von Beginn an grosse Teile der Bevölkerung mit ihm identifizieren.

Hat seine Popularität also nur mit seiner Herkunft zu tun?

Nein, denn er hat genau die richtigen Worte gefunden. Abiy hat in seinen Reden betont, wie wichtig es sei, selbstbewusst, positiv und vereint in die Zukunft zu gehen. Entscheidend war jedoch, dass er seinen Worten Taten folgen liess. Zeitweise nahm die Verehrung kultartige Formen an. Hundertausende kamen zu seinen Reden, es wurden T-Shirts mit seinem Konterfei gedruckt und Babys nach ihm benannt. Doch inzwischen stellt sich teilweise auch Ernüchterung ein.

Wieso?

Natürlich können nicht alle Probleme des Landes über Nacht gelöst werden. Das Wirtschaftswachstum kommt bislang nur einer kleinen Bevölkerungsschicht zugute, ein Grossteil lebt in bitterer Armut. Ausserdem treten aufgrund Abiys Politik der Öffnung neue Konflikte auf.

Ist das nicht paradox: Konflikte, ausgelöst durch einen Friedensnobelpreisträger?

In einem Vielvölkerstaat mit zahlreichen Volks- und Sprachgruppen ist es nicht verwunderlich, dass es Konfliktpotential gibt. Früher erstickte das Regime Proteste früh und oft brutal. Nun, da der Staat nicht sofort und mit grosser Repression reagiert, werden ethnische Spannungen sichtbarer.

Was hat das für Konsequenzen?

Zurzeit gibt es ca. 3 Millionen Binnenvertriebene in Äthiopien. Bei Zusammenstössen zwischen verschiedenen Volksgruppen sind im vergangenen Jahr Dutzende Menschen gestorben. Für den Ministerpräsidenten ist es eine sehr grosse Herausforderung, zu verhindern, dass diese Konflikte weiter eskalieren.

Wie sehen Sie die Zukunft Äthiopiens?

Zweifelsohne hat Abiy gegen gefährliche Widerstände zu kämpfen: Im vergangenen Jahr haben abtrünnige Militärs Attentate und Putschversuche unternommen. Grundsätzlich glaube ich aber, dass der Ministerpräsident auf einem guten Weg ist, die Demokratisierung und Entwicklung Äthiopiens weiter voranzubringen. Wir als Menschen für Menschen wollen gerne unseren Teil dazu beitragen, indem wir weiterhin mit unseren Förderprogrammen besonders armen Familien Lebensperspektiven eröffnen. Afrika – und Europa – brauchen ein stabiles Äthiopien. Die Nachbarländer sind geprägt von Unsicherheit und Krieg. Jetzt schon hat Äthiopien rund 700’000 Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und vor allem aus dem Südsudan aufgenommen.

 

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