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Michael Kesselring im Interview:

Äthiopiens Hoffnungsträger Abiy Ahmed

Das Nobelpreis-Komitee in Oslo hat entschieden, den äthiopischen Regierungschef Abiy Ahmed für die Aussöhnung mit dem langjährigen Erzfeind Eritrea und für seine Demokratisierungsbemühungen in Äthiopien mit dem Friedensnobelpreis zu ehren. Im Interview mit Radio Bern ordnete Michael Kesselring, verantwortlich für die Kommunikation von Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe Menschen für Menschen, die Entscheidung des Komitees ein. Wir veröffentlichen hier den gekürzten Wortlaut des Gesprächs.

 

Radio Bern: Hat das Nobelpreiskomitee eine gute Wahl getroffen?

Michael Kesselring in Äthiopien

Michael Kesselring auf Projektreise in Äthiopien.

Michael Kesselring: Abiy Ahmed hat den Friedensnobelpreis auf jeden Fall verdient. Seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2018 hat er Äthiopien grundlegend verändert und dabei ein hohes Tempo an den Tag gelegt. Schon in den ersten Monaten hat er Tausende politische Gefangene befreit, hat korrupte Politiker und Beamte entlassen, er hat die Regierung umgestellt, beispielsweise die Zahl der Ministerien verringert und die Hälfte der Ministerposten mit Frauen besetzt.

Vor seiner Wahl war Äthiopien in Aufruhr. Es gab in den Jahren zuvor immer wieder Proteste vor allem aufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit und auch weil sich die beiden grössten Volksgruppen der Amhara und Oromo nicht genug vertreten fühlten in der Regierung.

Abiy Ahmed ist allein durch seine Herkunft als Versöhner prädestiniert. Er ist zum einen Oromo von Vaters Seite und zum anderen Amhara, verbindet also beide Volksgruppen in seiner Person. Von Anfang an hat er eine Botschaft der Versöhnung angestrebt. Er trat nicht als autokratischer Herrscher auf, sondern als Mann des Volkes.

Mit seiner Politik macht sich Abiy Ahmed im eigenen Land offenbar nicht nur Freunde und sieht sich immer wieder auch mit Attentatsversuchen konfrontiert.  Worauf ist das zurückzuführen?

Wenn jemand so ein altes, etabliertes System aufbricht, gibt es auch immer Widerstand. Es sind vor allem Militär- und Geheimdienstkreise, die mit der Öffnung des Landes oder mit der Entlassung der politischen Gefangenen nicht einverstanden sind. Und Abiy hat viele Beamte und Regierungsmitglieder entlassen, die korrupt waren und sich diese nun zu Feinden gemacht.

Zum anderen muss man auch sagen – und das tönt ein bisschen paradox für jemand, der als Friedensnobelpreisträger ausgezeichnet wird: Nachdem Abiy ins Amt gekommen ist und die Teilhabe an den politischen Prozessen geöffnet hat, ist es vermehrt zu Zusammenstössen zwischen verschiedenen Volksgruppen gekommen. Zurzeit sind drei Millionen Äthiopier im eigenen Land auf der Flucht. Verschiedene Oppositionsgruppen haben sich gegen die Regierung aufgelehnt, weil sie mehr Autonomie für die einzelnen Regionen forderten.

Der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed bei einer Ansprache.

Wie kam es denn dazu, dass der Friedensprozess mit Eritrea nach Abiys Amtsanritt so rasch in Gang kam?

Ich denke, das hat schon mit Abiy Ahmed als Person zu tun, dass er einen neuen Geist der Versöhnung bringen will. Die beiden Länder waren ja jahrzehntelang im Krieg. Frieden mit Eritrea – das war ein grossartiges Zeichen, das rund um die Welt gehört wurde. Dennoch ist der Friedensprozess von verschiedenen Beobachtern in den vergangenen Monaten auch wieder kritischer betrachtet worden. Die anfängliche Grenzöffnung ist vielfach rückgängig gemacht worden und weiterer Fortschritt liess nach der Anfangseuphorie auf sich warten.

Äthiopien wurde in den vergangenen Jahren immer wieder von Dürren und Hungersnöten heimgesucht, es herrscht landesweit grosse Armut. Hat Abiy Ahmed hier überhaupt eine Möglichkeit, eine progressive Entwicklung in Gang zu setzen oder ist er vielmehr damit beschäftigt, eine Reparaturpolitik zu betreiben?

Es wird zweifelsohne nicht einfach für Abiy. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung lebt heute noch in extremer Armut. Das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren lag zwar immer bei acht bis zehn Prozent – eine der höchsten Raten in der ganzen Welt. Aber dieses Wachstum kommt noch nicht bei der ganzen Bevölkerung an. Ausserdem wächst die Bevölkerung ständig, mit fast drei Prozent pro Jahr, das macht es auch sehr schwierig, die Wirtschaft nachhaltig aufzubauen.

Nun heisst es ja von verschiedener Seite, Europa brauche Äthiopien als Stabilitätsanker in Ostafrika. Was muss man sich unter diesem Begriff vorstellen?

Es ist für Europa wichtig, einen politisch stabilen Partner am Horn von Afrika zu haben. Wenn Sie die Nachbarländer von Äthiopien anschauen – Eritrea, Sudan, Südsudan, Somalia – dann sind das alles Regionen, die immer wieder von grossen politischen Krisen und Unsicherheiten heimgesucht werden. Äthiopien als stabiler Partner ist für die gesamte Region wichtig. Man hat in den vergangenen Monaten gesehen, wie sich Abiy Ahmed als Vermittler in den Nachbarländern hervortat. So hat er im Sudan zwischen der Opposition und der Regierung vermittelt. Er hat zwischen Djibouti und Eritrea vermittelt. Er hat sich in diesen Konflikten bereits Glaubwürdigkeit erarbeitet, deshalb kann er sich auch in Zukunft als glaubwürdiger Stabilisator und Vermittler präsentieren.

 

Hier können Sie sich das ganze Interview in Ton anhören:

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